- 73. Folge -
Ihr Möhrenbeet hatte Gerta B. sehr
gern, weil sie gern Möhren aß. Auch die Feldmaus hatte ihr Möhrenbeet sehr gern, weil sie direkt darunter
wohnte und genauso gern Möhren aß. Es waren nicht etwa die Unterschiede der multikulturellen Herkunft,
sondern gerade die Gleichheit der Ausgangslage, eben die gemeinsame Vorliebe für dasselbe Möhrenbeet, die
leicht zu Spannungen hätte führen können. Gerta B. wollte sich ihre Möhren nicht von der Feldmaus wegnehmen
lassen, weil sie sich und ihre Familie mit Chlorophyl, Karotin, Vitamin ABC und mit Ballaststoffen zu
versorgen hatte. Auch die Feldmaus wollte sich ihre Möhren nicht von Gerta B. wegnehmen lassen, weil sie
sich und ihre jährlich sieben Kinder sowie - falls der erwerbsunfähig gewesen wäre - ihren Mäuserich mit
Grün, Gelb, Ssfft, Zrrp, Xx, Quiieck und anderen Mäusevitaminen zu versorgen hatte (diese Dinge werden
hier nach der Mäusesprache bezeichnet - zum besseren Verständnis für die Mäuse).
Da keine nachgab - sie hatten beide Charakter -, hätte es normalerweise Krieg geben müssen. Aber es
fehlte an einer entscheidenden Vorbedingung: an der notwendigen Aufrüstung auf der Seite der Feldmaus.
Es gab nämlich keine Fallen, die groß genug gewesen wären, um auch Gerta B. ganzkörperlich zu erlegen,
so, wie mit einer gewöhnlichen Mausefalle die Feldmaus zu erlegen gewesen wäre. Also war es nie zum
Entscheidungskampf gekommen.
Aus dieser unentschiedenen Lage erwuchs, wie das in der Geschichte der Kulturen schon mehrfach vorgekommen
war, eine mehr oder minder friedliche Koexistenz. Die Feldmaus setzte Zeichen, indem sie ab und zu einige
Möhren stehen ließ, damit sonst jemand sie nehmen konnte; es waren regelmäßig die ein wenig
verhutzelten und vertrockneten, die eh zuerst genommen werden sollten. Gerta B. ihrerseits, wenn sie
zuerst ans Ernten kam, übersah manchmal ganze Reihen, denen sie nicht so gut beikommen konnte.
Dieser Versuch eines gedeihlichen Zusammenlebens zweier möhrenfressenden Kulturen hätte beispielgebend sein
können, wären da nicht die Möhren gewesen, die um so sicherer gefressen wurden, je besser der Versuch der
anderen glückte. Besonders hinterher machten die Möhren immer den Eindruck von wahrhaft Leidtragenden.
Andererseits taten die Möhren nichts anderes als Wachsen, sie wuchsen um so schneller und üppiger, je mehr
ihre Reihen sich lichteten, gerade so als wäre es ihr höchstes Ziel und ihre größte Lust, alsbald genagt
und gekaut zu werden. Denn das hätten sie sich doch eigentlich denken können, daß man sie, waren sie erst
erwachsen, unweigerlich zernagen und zerkauen würde. Die Feldmaus und Gerta B. wußten nicht recht, was sie
darüber denken sollten, und also machten sie sich bis auf demnächst auch keine Gedanken darüber. Sie dachten
außerdem auch nicht darüber nach, was sein würde, wenn der heutige Überfluß an Möhren ein Ende nähme, wenn
Mangel einkehrte, wenn nichts mehr da wäre, was genagt und gekaut werden konnte. Wenn, wie man es aus den
schlimmsten Zeiten der Not kannte, man sogar, um zu überleben, sich gegenseitig auffressen müßte - ein
schrecklicher Gedanke für die Feldmaus vor allem, da sie weder Reißzähne noch einen Kochtopf besaß.
Daran dachten sie nicht, da sie sich an ihrem bescheidenen geteilten Glück erfreuten.
Säumen Sie nicht, einzustimmen bis auf weiteres, und versäumen Sie nicht die mitten aus dem Leben gegriffene
spannende nächste Folge von