Vom Leben und Treiben der Gerta B.

- 155. Folge -

Als menschliches Individuum war auch Gerta B., soweit sie mit der ganzen Blöße ihrer Existenz einer melancholischen Philosophie Modell stand, an und für sich wie eine - wenngleich weiträumige - Insel im Ozean des Nichts. Gleichwohl war diese menschliche Grundposition nicht mehr zu halten, wo auf einer schönen Insel, die ihrerseits im weiten Meer liegt, die Individuen nicht als solche, sondern nur in Haufen umherliefen. Das bekam sie deutlich zu spüren, als sie eben in Herbst mit ihrem Familienhäuflein durch Langeoog zog. Was sie auch tat oder vielmehr tun wollte, immer zerrte das Kollektiv sonstwohin. Freilich ging es den andern beiden Individuen auch nicht anders. Das eine wollte zur Meierei, das andere zum Hafen, und schließlich landeten alle drei im Teich.
Der Widerspruch zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Eigensteuerung war schlechthin unlösbar, was in exemplarischer Fürchterlichkeit jeden Abend bei der Lokalsuche zu Tage trat. Was ist der fressalische Kompromiß zwischen der "Klöönstube", der "Fischpfanne" und "Heiderösleins Grützenhäuschen"? Sie gingen dann einfach zum Italiener. Bei der Auswahl der Speisen wenigstens durfte man den eigenen Begierden ihren Lauf lassen. Papa verzehrte ausschließlich die im Meer verbliebenen Nachfahren der gemeinsamen aluvianischen Vorfahren, er neigte schon immer ein wenig zur Selbstzerstörung. Jeden Tag aß er nur Fisch. Vielleicht wollte er auf diese Weise seiner Wasserscheu einen besseren Grund geben, indem er am Beispiel der armen Fische zeigte, daß leichtsinniger Aufenthalt im Wasser mit Gefressenwerden bestraft wird. Angesichts der Exzesse ihres Gemahls brauchte Gerta B. sich und ihren Appettit nicht sonderlich zu exponieren, sie konnte viel bescheidener speisen und wurde trotzdem satt. Im Übrigen war auch sie in ihrer Geschmackswahl ganz ohne Konkurrenz, denn sie aß und trank Sanddorn mit der gleichen Monomanie wie der Gatte seinen Fisch. Sanddorn roh, gekocht oder gebraten, als Gemüse oder zum Dessert, als Saft oder Sirup oder mittels hochprozentiger Geistigkeit, ohne jemals im geringsten zu säuern. Die Tochter nahm es gar nicht leicht. Sie verbrachte ihre langen Abende mit der gedanklichen Wahl zwischen gegrillten Garnelen und geschnetzelter Pute. Nur eines war ihr klar: Wenn sie das eine aß, konnte nicht am selben Abend auch noch das andere gegessen werden; das war der Ursprung der Tragödie schlechthin. Die Lage wäre, obwohl sehr ernst, noch nicht ganz verzweifelt gewesen; es war der Schnupfen, der sie aussichtslos erscheinen ließ, ihr die komplizierte Tragik verlieh, denn jedesmal, wenn der Menüwahlprozeß bis zu einem interessanten Grade vorangeschritten war, fing die Nase, die in der Speisekarte steckte, prompt zu laufen an, so daß die ganze Prozedur von vorne beginnen mußte. Die arme Tochter! Trost fand sie immerhin in der Erinnerung an den alten Heraklid, der schon vor Jahren nicht nur die menschlichen Nasen, sondern schlechthin alles in der Welt als ständig "fließend" gedeutet hatte; man durfte sich den späten Konsequenzen dieser ehrwürdigen Philosophie nicht ganz entziehen.
Das Meerschweinchen war diesmal nicht mit von der Partie. Es hatte nicht mitfahren dürfen, weil es im neumodischen Interzitti keinen Viehwagen mehr gab. Doch das Möhrchen, dieses kluge Kerlchen, wußte sich wohl zu helfen. In Anwendung des meerschweinischeen Grundsatzes "Lieber Heu statt Reu" - das entspricht unserem "Lieber Brot statt Not" - empfing es die Ursel, wenn diese zum Füttern kam, jedesmal mit lautem Wehklagen und herzzerreißendem Jammer auf sämtlichen Mienen, daß die gute Seele, voll Mitleids mit dem armen verlassenen Waisenkind, ihm wahre Riesenportionen in den Käfig packte. Diese Pfiffigkeit hat Humanqualität. Es gibt zwischen Meerschweinchen und Menschen überhaupt keine Differenz des Wesens, wir sollten uns nicht dadurch täuschen lassen, daß die Meerschweinchen ein weicheres Fell, andere Pfoten und keine Reißzähne haben; die äußeren Unterschiede fallen nicht ins Gewicht, einmal abgesehen von der besonderen Konstitution, die für das Kugelstoßen nötig ist. Die liebe Ursel hätte dem Möhrchen alles gegeben in der Güte ihres Herzens, auch ihren eigenen Salat samt Karotten. Nur eines nicht: Sie hätte ihm nie einen Kuß gegeben, das wollte sie einfach nicht, und darum hätte die Ursel auch nie Froschkönigin werden können.
Gerta B. war darin manchmal doch ganz anders. Daß sie küßte, konnte schon passieren, aber nicht Meerschweinchen; man mußte doch ordentlich rasiert sein. Sie hatte auch sonst noch mancherlei liebenswerte Eigenschaften. Aber das kriegen wir später.
Wenn Sie noch mehr erfahren wollen von diesem wundersamen Leben und Treiben, dann verpassen Sie nicht die kommenden, im Prinzip unendlichen Folgen von

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