- 41. Folge -
Gerta B's Blicke waren im Laufe ihres
Lebens so scharf geworden, daß sie sich eines Tages, weil sie nur noch unendliche Fernen erreichen konnten,
weit hinter den Buchstaben der Zeitung verloren. Da half nur eine Brille, welche die Schärfe des Blicks ins
Leserliche abmilderte und außerdem Gerta B's Reizen einen neuen hinzufügte, so daß diese, wenn sie die Brille
trug und las, stets einen belesenen Eindruck machte.
Indes verlangte das neue Instrument auch neue Fertigkeiten in der Kunst des Lebens, mit denen alle erst einmal
fertig werden mußten. Jedesmal, wenn der Gatte aufdringlich erinnernd "Brille!" sagte, hatte Gerta B. diese
längst auf der Nase, weshalb sie jedesmal "Mußt du denn jedesmal daran erinnern!" antworten musste. Jedesmal
aber, wenn der Gatte "Brille!" zu sagen vergessen hatte, hatte auch Gerta B. die Brille vergessen. Ging sie
anschließend zum Konzertieren zur Chorgemeinschaft der Musikfreundinnen - eine Einrichtung, die, obwohl
hauptsächlich Damen der Bad Godesberger Gesellschaft darin verkehrten, nicht selten anspruchsvolle Musikwerke
ansprechend darbrachte -, so wußte sie sich glücklicherweise dergestalt zu helfen, daß sie eine entsprechend
sehenswerte Mitsängerin mit bis zur Augenhöhe erhobenem Notenblatt fünf Schritte vor die vorderste Reihe
treten ließ und auf diese Weise bravourös sopranierte.
Den Sonderapplaus kassierte freilich die vorne sich
präsentierende repräsentative Mitsängerin.
Wie unsere Hauptdarstellerin solche Unerträglichkeiten und die vielen anderen kleinen Erträglichkeiten des
Lebens meisterte, erfahren Sie in den weiteren Folgen von