Mit der schönen Müllerin

Aus der Serie:
Vom Leben und Treiben der Gerta B.

Das Hasenbachtal hatte gerade geschlossen, mag sein wegen Urlaubs der Hasen. Es läuft uns nicht fort, einmal werden wir es schon noch erlaufen können. Man braucht schließlich auch Perspektiven fürs Alter, wenn die Hasen wieder da sind. Wir liefen die Bäche hinauf und hinunter, stundenlang, tagelang, du voran, ich hinterher oder links daneben, am Stock, Mühlbach, Dörsbach, Sülzbach, aber nicht den Hasenbach, wie gesagt, Mühlenbäche allesamt, und überall sind Mühlen, die meisten bloß noch dem Namen nach und erinnerungshalber auf alten Holztafeln und in den veralteten Karten und Wegbeschreibungen verzeichnet, real nur noch Reste von Mühlen, zum wohnhaus umgewandelte Mühlen, hie und da ein altes Gebäude, hinter dem einst eine Mühle klapperte, nur im oberen Jammertal, das der Dörsbach mit seinem melodiösen Geräusch füllt, gibt es noch ein letztes Mühlrad im Keller, das sich unter den Wasserwirbeln dreht und das man nicht sieht, aber doch hören kann, immerhin. In dieser Mühle, im Jahre 1803 errichtet, wohnte einst die schöne Müllerin, wie auch der Franz Schubert eine gekannt hatte. Seit sie aber nicht mehr Müllerin ist, die Frau Müller, die uns das Mineralwasser und die trockenen Bretzel brachte, ist sie auch nicht mehr schön.

Laufen! Was läuft, lebt. Alles Lebendige läuft, mit und ohne Bein, kriecht, fliegt, schwimmt, bewegt sich, wächst und sinkt zurück. Curro, ergo sum. Selbst die dicksten Bäume streichen leichtfüßig durch die Wolken und sehen sich im großen Kreis immerwährend an Sonne, Mond und Sternen vorbeilaufen. Was ein Gefühl! Meine Gottheit wäre bewegter Geist, der uns nach seinen Gesetzen rennen und ruhen lässt. Notfalls musst du dir das Geistige die Kehle hinablaufen lassen. Himmel vom Fass, wie der Rühmkorf sagte. Menschenskind!

Von den Bachläufen weg quer hinauf gelangten wir zum Kloster Arnstein, und dort, auf einem durch ein knappes Jahrtausend praktizierter Geistlichkeit kontaminierten hohen Felsen über der Lahn, übten wir ein wenig Weltabschied, indem wir uns für einen Augenblick aus der Zeit fallen ließen. Der romanische Kirchenbau hat schöne menschliche Proportionen. Wenn du durch eines der Fenster in ein rund geschnittenes Stück Himmel schaust, überfällt dich ein plötzliches Wohlsein und du sehnst dich nach einem guten Gott, der dich ewig in Ordnung hält. Doch ist wahrscheinlich der große Gott nicht ganz in Ordnung gewesen, er ist selbst arg heruntergekommen, hat sich zum Chefideologen einer Fronherrschaft von Menschen über Menschen gemacht, und mit dem Wort Gottes wurde allzeit einer Leibes- und Seelenknechtschaft das Wort geredet. Das macht, weil sie nicht den Geist, sondern nur die Geistlichen und die Büttel und die Kanonen, nur die Beine und die Mäuler, aber nicht die Herzen haben laufen lassen. Wenn die Menschen dazu verdammt wären, ihre schönsten Bilder aufzufressen oder ihresgleichen mit ihnen zu erschlagen, dann hätte man sie eher nicht schaffen sollen, diese Bilder, oder diese Menschen. Kaum hatte ich das gedacht, hat man mich, du erinnerst dich, nicht mehr aus den Klostermauern herausgelassen, bis ich bekannte: Beides musste geschaffen werden. Draußen in den Bussen schauten die Leute so katholisch aus den Fenstern, dass man glauben mochte, es wären Weihrauchwölkchen, die hinten aus den Auspüffen fuhren. Letzten Endes bin ich doch erleichtert, es den anderen nicht mehr verübeln zu müssen, dass sie auf jede erdenkliche Weise nach den gleichen angenehmen Empfindungen suchen, an denen ich mich bereits ergiebigst ergötzte.

Abends, wenn wir zu Tische saßen, müde und wohl vom langen Laufen, dann liefen die Kellner, und je mehr wir ihnen auftrugen, desto hurtiger wurde uns von ihnen aufgetragen. Ganz ohne Zweifel hatten sie am Laufen ebensoviel Freude wie die vormaligen Wanderer und wie die vielen laufenden Wasser ringsherum. Wasser jedoch brachten sie uns nur zu Beginn, solange sie noch nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten, dann Wein, Lahnwein. Honni soie, qui mal y pense! Gleichwohl hatten sie auch noch andere Weine, die sie bereitwillig ausschenkten. Man muss der Lahntäler Gastlichkeit ein großes Lob nachrufen, alles in allem.

Von der Bank aus, auf der wir, von der Rotenhöhe kommend, unsere Wandertage beendeten, hast du einen Blick über Weinähr hin ins Gelbachtal. Auch den Gelbach hatten wir nicht mehr ablaufen können. Der Gelbach und der Hasenbach stehen für Aufgaben, die noch zu erfüllen sind. Unerhörte Spannweite des Lebens, alle unerfüllten Aufgaben einmal zusammengerechnet!
Sitzend und schauend, vom Herumschweifen satt bis in die obersten Hüftknochen hinauf, konnten wir uns des Gedankenschweifens lange enthalten. Allein die kleinen Glücksvorstellungen waren nicht zum Absitzen zu bringen, sie wanderten unentwegt weiter im Kopf herum. Wie könnten wir es denn bewerkstelligen, dass unsere Wanderbeinchen in ihrer alten Frische noch lange erhalten blieben? Was dein Gebein angeht, so brauche ich mich nicht zu sorgen um die verjüngende Kraft, die mir daraus allzeit zufährt, bist du doch auf ewig exakt um die Spanne jünger, die eben mich so alt aussehen lässt. Wie aber ich in meiner Sobeschaffenheit dir noch von Nutzen sein könnte, das ist eine Sorge, die meine zahlreichen Falten dazu berechtigt, für den Rest der Zeit Sorgenfalten geheißen zu werden. Nun, ich will mich ehrlich bemühen, dir mit meinen schönsten Infantilitäten aufzuwarten. Ein wenig möchte ich dir sein wie die Verrückten von Bergnassau mit ihren seltsam menschlichen Gesichtern, die wie einer unmenschlichen Normalität entkommen aussehen. Sie grüßen dich freundlich und strahlend, ohne dass du ihnen Anlass gegeben hättest, und teilen dir mit, dass heute "der Markt" ist in Nassau und dass am Abend ein großes Feuerwerk zu sehen ist, und das würdest du ohne ihre freundliche Ansage vielleicht nicht gewusst und nicht erlebt haben.